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Schwelende Krisen befeuern fermentierte Heiterkeit

London! Singapur! New York!

Was dort alles passiert! Und was für tolle Bars es dort und immer nur dort zu geben scheint!

“Unsinn!”, sagen wir. Dieser kurze Schnapp(s)schuss will endlich mal Platz machen für eine ganz andere, abseitige Schatzkiste des Genusses: die Ukraine.


Die Ukraine ist mal wieder in den Nachrichten. Mit einer Krise. Aha. Mit nicht anerkannten Wahlergebnissen, Korruption und Krieg. Oho! Doch wenn man zurück blickt auf die Zeit seit dem Fall des Eisernen Vorhanges: war es jemals anders? “Eigentlich ist das für uns keine Krise gerade” erklärt mir Orest Seredyak 2018. “Seit 1990 reiht sich bei uns eine Krise an die andere. Wir haben bisher alle irgendwie gemeistert, das schaffen wir nun auch noch” erklärte mir der Barchef der renommierten Bar Libraria Speakeasy. Und beleuchtet damit schon einen guten Teil der trotzdem irgendwie funktionierenden Strukturen sowie dem sozialen Leben in seinem Land. “Durchhalten, Weitermachen, notfalls darüber lachen und Nischen finden” scheint die Devise zu sein. Und so machte seine Bar im Herzen Lwiws landesweit mit Innovation und hohen Standards auf sich aufmerksam. Die Mixology berichtete hier und da bereits von der Ukraine. Vor allem über dem scheinbar unausprechbaren Lwiw nahe der polnischen Grenze und Kiew. Aufgrund mehrerer Reisen, Wohnsitz und auch Arbeit im Ostblock gelangen Einblicke, welche mich diversen östlichen Nachbarn sehr viel warmherziger gegenüber stehen lassen als den satten, reichen Cocktailmetropolen des Westens. Die mich regelmäßig mit Ihren Attitüden und dem gegenseitigen Schulterklopfen ankotzen. Denn jeder, der “Worlds 50 Best Bars” für ausgewogen oder erschöpfend hält, sollte sich auch mal die Weltklasse-Bar Parovoz in den Katakomben Kiews anschauen…



Überfluss contra Herzblut

Die schwierigen Bedingungen in den GUS-Staaten erfodern sehr viel mehr Einfallsreichtum und Herzblut, um nur einen kleinen Teil unserer Möglichkeiten zu erreichen. Bis vor kurzem benötigten Ukrainer ein Visum zur EU-Einreise. Jenes war wie Goldstaub und benötigte meist einen Gönner oder offizielle Einladung. Auch versenden viele westliche Internethändler nicht in ihr Land. Barwerkzeuge sind erst spärlich erhältlich, mehrere Internetseiten funktionieren hier nicht. Und würde die junge Generation nicht zunehmend auf Englisch als Drittsprache setzen: sie könnten nur einen Bruchteil aller Barbücher verstehen! Sie müssen demnach ungleich härter für Wissen und Fertigkeiten arbeiten. Und dürsten daher nach jeglichem Wissenstransfer oder Mitbringseln aus der westlichen Barwelt. Auf dieser Einführung basierend soll es dem geneigten Leser leichter fallen, die Leistung der ukrainischen Barszene einzuordnen. Denn fast alle hohen Standards, welche ihre Barszene erreichte, wurden sich mühsam autodidaktisch von Youtube und Instagram beigebracht.

Doch da diese Kolumne Trinkwelt und nicht Cocktailwelt heißt möchte ich lieber eine breitere Übersicht geben. Der Vielfalt der Ukrainischen Trinkkultur angemessen.


Umbrüche im Wein

Wein wurde zwar bereits von den Römern an der Schwarzmeerküste angebaut, ist als nenneswertes Getränk in der Ukraine jedoch relativ jung. Erst unter Katharina der Großen erarbeitete sich der Weinanbau an den Küsten des Schwarzen Meeres einen soliden Ruf. Bis an die windumtosten Hänge der Karpaten reichten vereinzelte Vinikultur-Projekte. Vor allem Krimsekt, das östliche Pendant zum bereits damals unglaublich glamourösen und teuren Champagners, punktete zunehmend. Französische Kellertechniken und -meister halfen dem mitunter flaschengelagerten Schaumwein ab dem frühen 20. Jahrhundert zu Renommée. Erst der Reformator Gorbatschow sah im Alkohol eine große Gefahr für die sowjetischen Völker und ließ den Weinbau großflächig einstampfen. Dies traf die Ukraine mit einer Halbiereung der Anbauflächen am härtesten.

Inzwischen lässt sich der geografisch nicht geschützte Krimsekt, sowie einige Weine aus dem sonnenverwöhnten Südwesten des Landes, wieder gut trinken. Spitzenrestaurants in Kiew, Dnipro, Odessa und Lwiw öffnen sich zaghaft für heimische Tropfen. Iwano-Frankiwsk, mit 200.000 Einwohnern das Zentrum der ukrainischen Karpaten, punktet gar mit einem Restaurant, welches sich auf karpatische Weine und Brände fokussiert. Wohingegen im 130km nördlich gelegenen Lwiw eine “Champagner Bar” mit östlichen Schaumweinen auch hoher Qualitäten punktet. Der seit den 1990er Jahren in Lwiw lebende Armenier Vardkes Arzumanyan konstatiert: “Champagneria will Stereotypen des Schaumweines und dazu passenden Snacks aufbrechen. Wir sammeln hier Schaumweine aus aller Welt, welche zur Kaukasischen Küche passen; zu frischgebackenem, georgischem Brot aber auch Hot Dogs und herzhaften Salaten.”



What the Kwas!?

Ähnlich dem Wein, erfreut sich auch die Bierbranche neuer Sprösslinge. Es gibt eine wachsende, wenn auch dünne, Bevölkerungsschicht der interessierten, zahlungswilligen Genießer. Vor allem Kiew, Lwiw und Donezk treten hier mit Klein-Marken den großen Spielern entgegen. Jene brauten über Jahrzehnte recht eintöniges Bier, vor allem Pils. Und gehörten mit InBev oder AnhäuserBusch auch noch zu den nicht für spannende Biere bekannten Biergiganten. Die inzwischen weit gestreute Szene in der Ukraine ist jedoch bereit, den vergleichbar hohen Preis von über einem Euro pro Glas für interessantes Lokales zu zahlen. Vor allem in und um die Karpaten geht es diesbezüglich ab. Prawda, Tsypa, Bierwelle (ja, tatsächlich) oder Persha Pryvatna Brovarnia bevölkern diese Region und stehen alle an der Spitze der ukrainischen Qualitätspyramide. Liebenswürdig wird hier nicht von “Craft Beer” sondern “lebendigem Bier” gesprochen. Dabei werden viele Russische und Deutsche Stile zitiert: Russian Imperial Stout, Gose, Alt, Kölsch, Weiße stehen hoch im Kurs und breit an den Zapfhähnen. Ebenso spannend hierbei ist die Bereitschaft der Großen, in ihren Anlagen die Kleinen mitbrauen zu lassen. Dieser ungewöhnliche Wissenstransfer zwischen den Brauern scheint stärker als internationale Konzerninteressen…

Gelernt haben die Jungen Wilden daher vielleicht auch ihre Markenpräsentation. Sie sind schlau im Bau eigener Trink-Tempel gehopfter Heiterkeit. Prawda beispielsweise betreibt gleich mehrere Etagen eines verglasten Gründerzeit-Eckhauses direkt am Hauptmarkt Lwiws, Copper Head im Zentrum Iwano-Frankiwsks.

Abseits des Bieres gibt es aber noch ein weiteres, fermentiertes Nationalgetränk auf Getreidebasis: Kwas. Genauer gesagt basiert es auf Brot. Ursprünglich als Resteverwertung sogar auf vergammeltem, engeweichtem altem Brot. Klingt so nicht sonderlich appetitlich, aber wann tut das die Wahrheit schonmal? Inzwischen ist die Produktion allerdings so ausdefiniert, dass sehr spezielle Brote genutzt werden - inzwischen auch immer frische. Aufgrund von sorten-, teils getreiderein ausgewähltem Brot birgt Kwas eine fast mit Bier vergleichbar breite Geschmacksvielfalt. Und so steht im Hochsommer alle paar Blocks ein Großmütterchen und schenkt, auf für westliche Hygiene-Standards teils besorgniserregende Weise, Selbstgebrautes an der Straßenecke aus. Gesund zurück ließ es mich bisher immer und so probiere ich mich gerne weiter an dieser low-fi Art der Eckkneipe. “Cornern” auf kyrillisch, sozusagen. Niedrigalkoholisch-Malziges bekommt man also auf der Straße mit dem Ruf “Kwas!”


Destillierte Tradition kämpft mit Marktmacht

“Wodka!” ist hingegen das erste, was bezüglich Urainischen Destillaten aus den Kehlen schallt. Die Auswahl an Marken-“Wässerchen” ist erwartungsgemäß groß und gleicht eher einem Ozean. Lokalpatrioten beherrschen hier klar das Feld und sind vor allem im überaus preiswerten Segment zu finden. “Die drei großen Wodkas der Ukraine kosten im Ladenregal €5,50 pro Liter für den Endkonsumenten”, verrät uns der Gründer des ersten Craft Wodkas des Landes, Distil No. 9’s Armen Hovsepyan. “Das sind dann aber auch schon angesehene Marken, welche mehr als ein Drittel des inländischen Marktes ausmachen! Insgesamt wird der 2018 280 Millionen Liter schwere Wodka-Markt der Ukraine zu 90% von billigsten oder mittelpreisigen Abfüllungen dominiert.” In einem Markt, in welchem unter ein (1!) Prozent ausländische Produkte ausmachen, fehlt ein inländischer, wirklich hochwertiger Wodka komplett. “Bisher wurde im Premium-Segment auf Grey Goose und Konsorten zurück gegriffen. Doch leben WIR Wodka - natürlich können wir das besser!” Der gebürtige Armenier lenkte lange die Geschicke der Ararat Brandy Company, gründete aus und möchte ein in der Westukraine basiertes, lokales Produkt ganz nach oben im lokalen Wodkamarkt führen. Ihn stört, dass sich die Mutterländer des Wodkas den Schneid von von westlichen Marken abkaufen lassen - mit scheinbar nicht einmal perfekter Qualität. In guten Momenten verweist er diesbezüglich auch mal auf ein großes US-Amerikanisches Wodkahaus…

Nemiroff, der einzige auch über die Grenzen des Landes hinaus aktive Wodka-Großproduzent, geht hingegen anders an seinen Heimatmarkt. Sie kümmern sich mit intensiver Betreuung um die keimende Barszene. Mit Marktmacht und solider Preisstrategie kämpft die Marke darum, im Cocktailrennen zu bestehen. Doch will es Ihnen nur mühsam gelingen, mit den sexier ausländischen Produkten mitzuhalten.

So würde auch Hennessy den lokalen Brandies vorgezogen, wäre er erschwinglich. Womit eine weitere Besonderheit der Cocktailszene offenbar wird: Großkonzerne sind präsent und investieren in den Markt und seine Entwicklung. Auch mit der inzwischen sehr großen Barmesse Barometer in Kiew. Trotzdem finden sich in den Regalen der Bars für das westliche Auge unbekannte Marken. Marken, welche von Konzernen gezielt am unteren Ende der Preisspanne produziert und vermarktet werden. Um in einkommensschwachen oder von starken Wechselkursgefällen gebeutelten Märkten präsent sein zu können. Die Ukraine ist hier das perfekte Beispiel! Prominent soll hier der lokal überaus verbreitete Blended Scotch “Hanky Bannister” dienen: Eine solide Abfüllung, fern von jeglichen Auszeichnungen. Aber sicherlich solide genug für anständige Rusty Nails und definitiv so charakterstark, um im hier und da als “Classic Drink” angepriesenen Scotch Cola zu bestehen. Er kostet die Bars ab €5 netto pro 700ml und ermöglicht erst flächendeckende Scotch-Präsenz. Diverse Blends erweitern das Sortiment. Doch gibt es wohl weinger als zwanzig Bars im ganzen Land, welche sich Ardbeg oder Laphroaig im Regal leisten; geschweige denn Fasstärken oder Sonderabfüllungen.



Betrunkene Trauben

Um den Faden der verschmähten Lokal-Destillate weiter zu spinnen, lohnt sich auch ein Blick auf Brandy. Einblicke in die Spitzbübigkeit, mit welcher in den ehemaligen Sowjetrepubliken Namensrechte sowie geschützte, geografische Bezeichnungen … nun, “umgangen” werden konnten in der MIxology bereits gegeben werden. In Kaufhallen und Spätverkäufen wird beispielsweise flächendeckend “Konjak” östlicher Provenienz regalfüllend feil geboten. Und auch aufgrund von überaus konkurrenzfähigen Preisen fleißig konsumiert. Die Armenischen und Ukrainischen Marktteilnehmer Ararat, Schustoff, Noe und Zakarpatiy bieten allerlei Abfüllungen ab €6 pro Liter an. Sind jedoch auch mutig genug, das ganz obere Segment anzugreifen. Gleichzeitig sorgt aber genau jener Ruf der Billigbrandies, vielleicht ähnlich dem Los des Deutschen Korns, für große Zurückhaltung seitens der Gastronomen. Zu Unrecht, wie ich finde!

Denn mit einem dem Armagnac oder Weinbrand ähnlichem Geschmacksprofil sind sie in meinen Augen definitiv eine valide Alternative. Denn im Preis-Leistungs-Vergleich finden sich hier wahre Perlen. Welche jedem zentraleuropäischem Gastronomen Freudentränen vergießen lassen würden. Im Gegensatz zu Armenien oder Georgien konnte sich in der Ukraine jedoch noch kein östlicher Branntweinproduzent nachhaltig im Cocktailmarkt etablieren.

Im Gegensatz kann der lokale Eau De Vie bisher noch nicht begeistern. Solide Ukrainische Vertreter von Tresterbrand, Wasser, Geist oder Slivovitz biteen bisher kaum international marktfähige Qualitäten.


Und was ist nun mit Cocktails?

Auch dieser Artikel beleuchtet noch nicht die gesamte Tiefe der Szene. Lokale Kräutertees oder Spezialitäten wie die geräucherten Säfte Uzwar müssen also an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen werden.

Die nächste Reise ist jedoch schon geplant und ich bin gespannt, wie weit sich die Szene seit den letzten Artikeln entwickelte, welche Schritte gemacht wurden! Doch da die Ukrainische Cocktailszene aktuell noch zur westlichen aufholt, soll an dieser Stelle auf die bisherigen Artikel verwiesen werden. Und dem geneigtem Leser vorerst Wodka, Brandy, Wein, Ukrainisches Bier, Kwas und der Genuss der bisherigen Berichte ans Herz gelegt werden. Denn da gibt es schon jetzt sehr viel zu entdecken!



Dieser Artikel erschien zuerst in der Mixology Printausgabe.

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